Kalenderwoche 28/2023
Steine zählen
Von Thomas Röthlisberger
Henrik Nyström, der lokale, finnische Polizeibeamte, ist unterwegs zu einer kleinen Bauernhofsiedlung ausserhalb des Hauptortes. Bei der Polizeiwache ist ein Anruf eingegangen. Scheinbar hat der alte Matti Nieminen auf seine Frau Märta geschossen. Sofort fährt er los und spricht dort mit dem kauzigen, recht verwahrlosten Mann. «Nach vierzig Jahren Ehe will meine Frau mich verlassen», sagt er. «Warum muss sie plötzlich weg, wenn sie es vierzig Jahre und länger ausgehalten hat? Auf die paar Jahre, die uns bleiben, wäre es wohl nicht mehr angekommen.» Nun bleibt Matti nur noch sein Hund, den er aber alles andere als nett behandelt. Matti hat sich im ganzen Leben noch nie etwas gefallen lassen, von niemanden. Jetzt in seinem Alter bleibt ihm nur noch übrig die Steine auf dem Vorhof aus dem Weg zu kicken. Früh heiratet Märta den jungen Angeber Matti. Ihre grosse Liebe Pekka darf sie nicht heiraten, ihre Eltern sind strikt dagegen. Er ist ein Auswärtiger, kommt aus der Stadt. Dann verschwindet Pekka plötzlich. Die Umstände zwingen die unglückliche Märta zu heiraten. Bald darauf kommt ihr Sohn Olli auf die Welt. Er ist eine Frühgeburt, dünn, sensibel und gar nicht wie Matti. Olli zieht früh aus, weg vom Vater. Er will es besser machen, wünscht sich ein besseres Leben als seine Eltern und bezieht schlussendlich trotzdem Sozialhilfe. Wenn das Geld knapp wird, hilft ihm seine Mutter. Nun ist die Mutter aber weg. Sie ist aus dem Zuhause ausgezogen und lebt momentan bei ihrer Schwester und deren Mann Arto im Hauptort. Als Märta mit ihrem Schwager ein paar Sachen vom Hof holen will, fällt ein Schuss. Eine dramatische, finnische Familiengeschichte, die unter die Haut geht. Eine Geschichte, die noch lange in einem nachhallt.
Nicole Kast
am 10. Juli 2023